Eine Pandemie zieht durch die Welt und wir haben mehrere Wochen lang ausgeharrt, eingeschlossen in unseren Häusern und in physischer Distanz zu unseren Nächsten, versorgt mit pausenlosen Meldungen über Kurvenverläufe und Todesraten, konfrontiert mit medizinischem Fachwissen, Bildern von vermummten Ärzten und Pflegern, ständig ermahnt von Politikern, die Souveränität an den Tag zu legen versuchten. Die erlassenen Maßnahmen haben wir hingenommen, aus der Einsicht heraus, dass es wohl keine Alternative dazu gab.
Inzwischen werden die Stimmen immer lauter, die nach Antworten auf den langsam zu Ende gehenden Stillstand rufen, Planungen einfordern, Überlegungen anstellen, was morgen und übermorgen zu tun sei, die Rückkehr zur „Normalität“ ausrufen oder auch schon genau zu wissen meinen, was anders werden muss.
Als Katholisches Forum wollen wir uns bewusst darauf beschränken, die Zeichen der Zeit, die Schrift an der Wand, die das Virus derzeit weltweit buchstabiert, sorgfältig zu lesen und mögliche Fragen dazu zu stellen. Nur fragend tasten wir uns in dieser Situation der Ungewissheit vorwärts.
Was hat das Virus und die von diesem ausgelöste Pandemie mit unserer Lebensweise zu tun?
Häufig wird in diesen Tagen ein direkter Zusammenhang zwischen der Pandemie und der Lebensweise in der globalisierten Welt postuliert. Globalisierung und Verstädterung, Klimawandel und schrankenloser Tourismus, industrielle Landwirtschaft und eine Konsummentalität allenthalben werden aufgerufen. Vor vorschnellen Kausalitätszuschreibungen ist allerdings zu warnen. Seuchen hat es zu jeder Zeit gegeben, auch ohne die genannten Faktoren. Wurden Seuchen in vergangenen Zeiten als Strafe eines zornigen Gottes gedeutet, scheint die „Natur“, die „Ökologie“ diese Funktion übernommen zu haben. Und doch muss die Frage erlaubt sein, ob die Lebensweise der modernen, produktions- und verbrauchsversessenen, hypervernetzten Welt nicht ein besonderes Verstärkungspotential für die Verbreitung in sich trägt. Was heißt das für die eben beginnenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gehversuche in die „Zeit nach Corona“ hinein?
Ist die „soziale Distanzierung“ eine Signatur unserer Zeit und durch die Pandemie-Maßnahmen bloß in ihrer extremen Form zum Ausdruck gekommen?
Wir haben in den vergangenen Wochen die Maßnahmen des social distancing als starke Einschränkung erlebt. Wie nie zuvor wurde uns bewusst, wie wichtig die Begegnungen mit anderen Menschen für ein gutes Leben sind. Unser Erschrecken und unsere Betroffenheit in dieser Situation hängen aber vielleicht auch damit zusammen, dass diese Pandemiemaßnahmen bloß etwas zur Pflicht erhoben haben, was schleichend bereits seit Jahrzehnten eingeübt wird. „Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir voneinander immer unabhängiger und vom Ganzen immer abhängiger werden“ beschrieb der Schriftsteller Botho Strauß bereits vor Jahrzehnten die untergründig vor sich gehenden gesellschaftlichen Veränderungen hin zu einem ungebremsten Individualismus. Sind wir imstande und gewillt, bewusstere Formen des miteinander Umgehens, des aufeinander Zugehens zu suchen und zu finden?
Werden durch die Pandemie soziale Schieflagen und Ungerechtigkeiten deutlicher sichtbar?
Die Katholische Frauenbewegung hat bereits darauf hingewiesen: Es ist in den vergangenen Wochen deutlich geworden, dass Frauen in den Familien, in den Pflegeberufen, in den Grundversorgungsbranchen einen großen Teil der Last in der Bewältigung der alltäglichen und lebensnotwendigen Aufgaben tragen. Als „systemrelevant“ wird ihr Beitrag derzeit gelobt. Und bald wieder vergessen?
Wurden bei den in den vergangenen Wochen getroffenen Entscheidungen die Familien ausreichend wahrgenommen und berücksichtigt? Kommt in der Krisensituation – so der Eindruck des Katholischen Familienverbands – nur noch einmal deutlicher eine generelle Haltung einer geringen Beachtung der Gesellschaft gegenüber den Familien zum Ausdruck? Wie geht es den Kindern und Jugendlichen? Werden deren besonderen Gefährdungen und Nöte in dieser Zeit, die soziale Verarmung, wahrgenommen und bedacht? Ist der digitale Fernunterricht die einzige Antwort auf die geschlossenen Schulen? Sind die Menschen, die an den Rändern unserer Gesellschaft leben, völlig aus dem Blick verschwunden?
Welche Fragen stellt uns diese Krise in Bezug auf unsere Wirtschaft?
Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie werden derzeit heftig diskutiert. Es gibt die unterschiedlichsten Szenarien, die meisten mit negativen Vorzeichen. Es stellt sich die Frage, ob die Form der globalisierten Wirtschaft mit eingebautem Wachstumszwang, unverantwortlichem Verbrauch von Ressourcen, ungebremstem Konsum und Verschleiß von Gütern die einzig denkbare Form des Wirtschaftens darstellt. Die Verwundbarkeit dieser Form des Wirtschaftens ist in der Zeit der Pandemie für alle sichtbar geworden. Welche Möglichkeiten ergeben sich aus einem wirtschaftlichen Umdenken für unsere Region?
Die Erfahrung der vergangenen Wochen hat den Konsumenten gezeigt, dass nicht alle Güter und Dienstleistungen zu jeder Zeit verfügbar sein müssen und dass Geschäfte auch am Sonntag geschlossen bleiben können. Ist nicht der Verzicht auf das Einkaufen am Sonntag – eine Forderung, die das Katholische Forum seit langem erhebt und die letzthin auch die Katholische Männerbewegung wieder zur Sprache gebracht hat – ein Gewinn für die Familien und für die Gesellschaft insgesamt?
Wie ist unser Verhältnis zum Tod, zum Sterben?
Die vielen Toten, die zu beklagen waren, auch das Leid der Kranken, stellen uns die Frage nach unserem Verständnis von Sterben und Tod mit nicht aufschiebbarer Dringlichkeit. Sind die Toten nur mehr Zahlen in abstrakten Statistiken? Wie verstehen wir als Christen Leiden, Sterben und Tod? Ist der Tod nur als Niederlage zu interpretieren, als eine Niederlage, die der medizinische Apparat nicht abzuwenden imstande war? Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass diese Pandemie vor allem alte und gebrechliche Menschen gefährdet hat?
Was lernen wir als Kirche aus der Erfahrung der Pandemie?
Die vergangenen Wochen ohne öffentliche Gottesdienste waren für viele Gläubige eine Wüstenerfahrung. Schnell wurde als Behelf auf die digitale Form der Gottesdienstübermittlung zurückgegriffen. Ist das wirklich ein Ersatz für die gemeinschaftliche Feier mit „realer Präsenz“? Können wir uns jetzt wieder zurücklehnen und uns zufriedengeben mit der vorsichtigen Öffnung der Kirchentüren? Oder können wir aus der Erfahrung der Krise den Mut und die Phantasie zu neuen Formen der Feier unseres Glaubens und des pfarrlichen Lebens finden? Ist die kirchliche „Wüstenerfahrung“ dieser Wochen ein Anlass, die in der Synode angedachten neuen Wege mit Entschiedenheit zu beschreiten? Und: Ist diese Krise letztlich nicht auch eine Anfrage an unseren Glauben und an unser Verständnis des Christseins heute?